Wir sind alle Pilger
ob wir wollen oder nicht
„We are all pilgrims here on earth
And we are running together towards the Golden Shore.“
Sri Chinmoy
Ein Pilger reist zu einem geheiligten Ort, um dort Inspiration und inneres Feuer zu erhalten; um sich dem Göttlichen, dem Schöpfer näher zu fühlen.
Und dann kann man je nach Religion noch präzisieren: Um der Erlösung, der Befreiung, dem Nirvana, der Erleuchtung, der Gottverwirklichung, der „unio mystica“ näher zu kommen.
Dass es sich hier um verschiedene Namen für die gleiche Göttliche oder höhere Realität handelt, haben immer mehr Menschen in den letzten Jahrzehnten erkannt. Alle spirituellen Bewegungen, von welcher Kultur sie auch stammen mögen, streben gleich Flüssen dem Meer zu. Im Meer vereinen sie sich, verlieren sie ihre Individualität, gehen sie in der höchsten Wirklichkeit, dem Unendlichen, Ewigen und Unsterblichen auf.
Das eigentliche und geheime Ziel aller Lebewesen auf unserem so einzigartigen Planeten ist die Evolution, die nur mit dem ständigen Überschreiten der eigenen Grenzen möglich wird – physisch wie auf der Ebene des reinen Bewusstseins; in der englischen Sprache gibt es dafür den treffenden Terminus „selftranscendence“.
Vor 150 Jahren hat Darwin auch im Westen, im Abendland, die Jahrtausende alte indische Erkenntnis der Evolution bestätigt, wenn auch vor allem nur, was die äußere, die physische Evolution betrifft. Niemand wird allerdings bezweifeln, dass es auch die Evolution des Bewusstseins gibt, und zwar auf einer kosmischen Ebene betrachtet wie auch in jedem Individuum. Man wird im Alter nicht nur weiß, sondern (hoffentlich) auch weiser, was mit der zunehmenden Zahl von Lebenserfahrungen zusammenhängt. Man entwickelt sich, reift, erwirbt neue Erkenntnisse und Einsichten. Und das gleiche gilt für ein überindividuelles Bewusstwe4in: Vor 100 Jahren sind die europäischen Länder noch alle gegeneinander in den Krieg gezogen. Heute ziehen sie alle (mehr oder weniger) an einem Strang. Schade, dass für die Atheisten die Geschichte aufhört, wenn der Mensch schlussendlich seinem unausweichlichen Schicksal entgegengeht und sich sein Körper nach dem Tod wieder in seine Elemente auflöst. Es wäre doch interessant, wohin diese individuelle Evolution geführt hätte, wenn sie nicht durch den Tod unterbrochen worden wäre?!
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem lebenden Körper und dem gleichen Körper ein paar Minuten nach seinem Tod? Es fehlt im Bewusstsein. Bewusstsein ist Leben und egal welcher Religion man anhängen mag, alle Mystiker haben in ihren spirituellen Erfahrungen gesehen bzw. erfahren, dass der Tod nicht das Ende ist, da Bewusstsein nicht sterben kann, nur die Materie tut dies. Das heißt, das Bewusstsein existiert weiter oder, um es mit einem vertrauten Terminus zu beschreiben, die Seele lebt weiter. Ich hatte einmal in der Meditation die Erfahrung, wie sich mein Bewusstsein vom Körper löste und ich mich vom Plafond des Zimmers aus betrachten konnte – Ich sah, wie ich da unten in Meditationshaltung meditierte. Eine ähnliche Erfahrung machte einer meiner engsten Freunde und ein Heer von Meschen. Nein, das Bewusstsein benötigt keinen Körper, um zu existieren, aber ein Körper benötigt Bewusstsein (eine Seele), um zu leben.
Im Hinduismus wie im Buddhismus beschreiben die großen Meister, dass dieses Bewusstsein nach Verlassen der körperlichen Hülle m Zuge des physischen Todes später wieder neuerlich die Materie beseelen kann, sich wieder inkarnieren kann, und es gibt auch spirituelle Menschen, die übrigens dafür keineswegs Meister sein müssen und dennoch sehen können, welche Inkarnationen sie schon hatten. So entwickelte Menschen gibt es absolut nicht viele, nein, ganz wenig nur, aber ich kenne welche.
Die Inkarnationen folgen ebenfalls dem Gesetz der Evolution: vom Pflanzenreich in das Tierreich, vom Tierreich in das Reich des Menschen, vom primitiven, rein triebgeleiteten stumpfen Menschen zum hochgeistigen, liebevollen Weisen. Das Ziel der Evolution liegt darin, wieder zurück zum Ursprung zu kommen: Der Tropf, der irgendwo in der Welt herunterregnet, vereinigt sich mit anderen zum Rinnsal, zum Bächlein, zum Fluss und geht schließlich wieder im Ozean auf, von dem er ursprünglich stammte.
Die individuelle Seele weitet durch viele Inkarnationen mit ihren unzähligen Lebenserfahrungen ihr Bewusstsein, bis sie im kosmischen, im göttlichen Bewusstsein eintaucht; eins mit der einen Wirklichkeit wird, die hinter all den oberflächlichen Manifestationen des „Selbst“ existiert. Dann sind wir bei der Gottverwirklichung, Selbstverwirklichung, beim Nirvana, der Befreiung oder – wie es vor allem im Westen genannt wird - der Erlösung angelangt – und sie gehört dann uns, und zwar im „Leben“ wie auch im Tod. Das „uns“ ist dann die eine göttliche Wirklichkeit, die immer schon alleine existiert hat, die wir aber aufgrund des Schleiers der Unwissenheit, dessen Wurzeln in unserem Ego zu suchen sind, nicht wahrnehmen konnten. Wir haben uns mit dem kleinen ich, dem Ego identifiziert, was uns vergessen ließ, dass wir ja in Wahrheit das ewige, unsterbliche, „große“ „Ich“ – das Eine (ohne zweites), das göttliche Selbst sind.
Um auf den Aphorismus am Beginn dieses Essays zurückzukommen: Jeder Mensch, ob er will oder nicht, ob er es weiß oder nicht, befindet sich im Prozess seiner Evolution, seiner Bewusstseinsentwicklung und macht viele Erfahrungen im Leben, die ihn dem Ziel, „der Goldenen Küste“, näherbringen. Interessanterweise spielt es dabei keine Rolle, ob er die Erfahrungen als gute oder schlechte Erfahrungen wahrnimmt; tatsächlich sind, spirituelle betrachtet, schmerzhafte Erfahrungen häufig „gute“ Erfahrungen, denn sie bringen ihn zum Reflektieren oder zwingen ihn oftmals zum Überdenken von Verhaltensweisen oder Inspirieren ihn mitunter zu einem Neubeginn im Leben.
In diesem Lichte betrachtet sollte man das Leben, unabhängig davon, was das Göttliche für Erfahrungen für uns bereithält, immer mit einer Dankbarkeit und Heiterkeit betrachten; schließlich bewegen wir uns in Richtung der Goldenen Küste, auch wenn der eine oder andere Sturm uns noch zusetzen wird.
Das erinnert mich an einen netten Zen-Cartoon, den ich einmal gesehen habe: Ein Zen-Adept geht in meditativer Stimmung entlang des Weges als er sich unversehens den Kopf an einem Ast eines Baumes anschlägt. Er verbeugt sich daraufhin vor dem Baum und sagt: „Danke!“ Aber das war nicht ironisch gemeint!
20.6.2020, Arthada