Laufen ist die Antwort
Natürlich meditiere ich mindestens morgens und abends in einem für die Meditation reservierten, abgeschotteten Bereich, meinem Meditationszimmer.
Interessanter Weise erhalte ich aber oft meine besten Einsichten nicht dort, sondern beim meditativen Laufen. Häufig wiederhole ich dabei irgendwelche Gebete oder Aphorismen, die zu meinem täglichen Programm zählen und erhalte dann mitunter neue oder tiefere Einsichten von diesen, auch wenn ich sie schon tausende Male wiederholt hatte. Heute passierte mir so etwas bei folgendem Aphorismus:
My Lord, When I pray, it is all wrong.
When I meditate, it is all wrong.
When I serve, it is all wrong.
My Lord, what can I do?
“My child,
Before you pray,
Ask Me to pray in and through you.
Before you meditate,
Ask Me to meditate in and through you.
Before you serve,
Ask Me to serve in and through you.
Give Me the full responsibility.
You just be the witness.
Watch Me, what I do and how I do it.”
Sri Chinmoy
Das Ziel eines jeden Wegs, egal welcher spirituellen Richtung er angehören mag, ist in der Regel die Aufgabe des Egos; also das über das eigene kleine ich Hinauswachsen, das in das göttliche Selbst, das kosmische Bewusstsein, das Göttliche eintauchen. Spätestens seit Buddha weiß man, dass das Ego die Wurzel allen Leidens ist und daher das Ziel einer jeden spirituellen Disziplin darin liegt, sich über das Ego hinaus zu erheben.
So weit so gut. Nur bei der Umsetzung stoßen wir auf große Schwierigkeiten, dabei sind die Methoden im Osten wie im Westen weitgehend die gleichen: Das höchste Gebot im Abendland heißt: „Dein Wille geschehe“ (Jesus). Das höchste Gebot im Osten heißt: „Sei ein reines Instrument (Gottes)“ (Sri Krishna).
Als mir zum ersten Mal klar wurde, in welche Richtung es gehen müsse, hat sich sofort mein Verstand eingeschalten und hat angemerkt: Wie soll ich denn „Seinen Willen“ erfüllen, wenn ich ihn gar nicht kenne?! Dieses Argument erschien mir überaus berechtigt und so dachte ich mir, dass ich trotz bester Absichten dieser spirituellen Grundsatzregel, von der es heißt, dass sie alle Tore zu Gott, der Seele und dem Höchsten öffnet, einfach nicht folgen kann.
Heute beim Laufen erkannte ich, während ich den oben angeführten Aphorismus wiederholte, wie dieses vom spirituellen Standpunkt aus betrachtet zentrale Problem angegangen werden könnte: Der Schlüssel dazu liegt in der Vorstellungskraft, von der es heißt, dass sie für den spirituellen Fortschritt unabdingbar ist und dass sie in der inneren Welt über eine eigene Wirklichkeit verfügt, die auch einen Effekt auf unsere sogenannte äußere Wirklichkeit ausüben kann. Wenn ich zum Beispiel die Augen schließe und mir konzentriert eine überreife Zitrone vorstelle, die trieft, während ich sie auseinanderschneide, und wenn ich dann in meiner Vorstellung einen beherzten Bissen von ihr nehme, wird sich gleich alles in meinem Mund zusammenziehen und mein Körper wird auf die reine Vorstellung mit körperlichen Reaktionen und Empfindungen reagieren, wie zum Beispiel mit verstärktem Speichelfluss.
Richtig, ich weiß nicht immer konkret, was der Wille Gottes ist; allzu oft, fürchte ich, projiziere ich in subtiler Weise in diesen meine eigenen Wünsche, Erwartungen oder Gefühle. Aber ich kann eines machen: Ich kann versuchen oder mir einfach vorstellen, die Position eines unbeteiligten Beobachters (in mir selbst) einzunehmen. In ähnlicher Weise, wie man in der Meditation versucht, vom Denker, treffender sollte man wohl sagen vom Fließbanddenker im Verstand zum Beobachter im Verstand, genauer zum Beobachter des Verstandes im Herzen, zu wechseln. So sollte man zumindest zeitweise versuchen, die Tätigkeiten im Leben von einer Beobachterposition her zu betrachten – was vieler, vieler Übung bedarf. Das beginnt damit, dass ich einmal damit beginnen sollte, mich emotional von diesen Tätigkeiten zu lösen, wobei es gleichgültig ist, ob ich bete, meditiere, laufe, arbeite, oder sonst einer Tätigkeit nachgehe.
Das Credo sollte lauten: „Ich bin nicht für das Resultat verantwortlich. Daher ist es mir auch egal, ob ich erfolgreich bin oder versage. Ich habe keine Erwartungen, keine Wünsche, während ich diese Tätigkeiten ausübe, denn ich bin nur die Kutsche, nicht der der Kutscher. Ich beobachte vom Herzen (nicht vom Verstand!) her, was passiert, wie ich alles tue.“
Und wenn mir dies nicht so ganz losgelöst gelingen will, lege ich zumindest innerlich die Früchte meiner Tätigkeiten zu Füßen des Höchsten. Wenn der „Beobachter“ in mir zunehmend im Herzen positioniert werden kann, komme ich automatisch in einen inneren Fluss, aus dem heraus ich mehr und mehr Dinge tun werde, die ich nicht mehr bereuen muss. Ein innerer Friede wird sich in mir ausbreiten und ein höheres Licht aus der Tiefe meines Herzens wird besser in der Lage sein, mich zu leiten. In der Folge lebe ich viel mehr im Einklang mit der Natur, mit meiner Seele und vor allem mit Gott. Das ist der Weg zum Glücklichsein. Und zwar Glücklichsein hier unten auf der Erde und nicht vielleicht irgendwann einmal da oben im Himmel, auch wenn ich überzeugt bin, dass unser „Geist“, also unsere Seele, über den materiellen Tod hinaus von so einem Leben enorm profitieren wird.
Ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, dass diese Losgelöstheit von der Tätigkeit bzw. dem Resultat unseres Handelns, keinesfalls bedeuten kann, dass wir nicht mehr konzentriert und sorgfältig agieren. Ganz im Gegenteil! Da wir in unserer Vorstellungskraft eine höhere Kraft durch uns fließen und handeln lassen, müssen all unsere Tätigkeiten mit größter Sorgfalt, Konzentration und bestem Können ausgeführt werden. Nur so führen sie zu dieser tiefen inneren Befriedigung (be – Fried(e) – igung) und Freude.
Mehr kann ich dazu momentan noch nicht sagen, aber ich bin sehr dankbar, dass dieser gordische Knoten, dieses scheinbar unlösbare Problem mit dieser Technik angegangen werden kann, nämlich „den Willen Gottes“, den man ja nicht kennt, „zu erfüllen“.
Abschließend möchte ich noch bemerken, dass wohl die asiatische Technik der „Kunst des Gewahrseins“, die besonders im Buddhismus praktiziert wird, auf ein ähnliches Resultat abzielt, auch wenn die Erklärungen anders lauten, da im Buddhismus ja nicht vom Göttlichen, sondern eher von Licht, Nirvana usw. gesprochen wird.
Es ist eine hervorragende Methode, um nicht vom Fluss der eigenen (meist unproduktiven und unwichtigen, wenn nicht sogar negativen) Gedanken fortgerissen zu werden. Die Gedanken zeigen üblicherweise gleich einem perpetum imobile ein gleichermaßen unfruchtbares wie unbändigendes Kreisen, und lassen uns so nicht den augenblick, das Jetzt. Wer in die Zukunft schweift, baut sich mitunter Luftschlösser oder erwartete sich Dinge, die sich dann doch nicht erfüllen lassen. Er lebt jedenfalls nicht im „Jetzt“. Der einzigen Wirklichkeit, die immer war und immer sein wird. Das gleiche gilt für die (oft älteren) Menschen, die zu viel Gewicht der Vergangenheit geben und über diese nachsinnen. Die Vergangenheit hat ihnen mitunter auch viele negative Erfahrungen beschert, jedenfalls keine Erleuchtung. Also betrachten wir sie wie Schnee vom letzten Jahr: Wir können heute damit keinen Schneemann mehr bauen – also weg mit diesen unfruchtbaren Gedanken.
Wir leben im Hier und Jetzt, nicht in der Vergangenheit und schon gar nicht in der Zukunft, die es ja nur in unserer Vorstellung gibt. Die einzige Realität ist das „Jetzt“. Um in dieses hinein zu tauchen, muss der Gedankenfluss verebben. Eine gute Technik, um dies zu fördern, ist nun eben das Gewahrsein. Hierfür muss man sich konzentrieren. Man konzentriert sich zum Beispiel auf das Herz, wobei eine Möglichkeit darin bestünde, sich eine Blume im Herzen vorzustellen. Man kann sich aber einfach auch auf die Tätigkeit konzentrieren, die man gerade ausübt. Ja, man kann versuchen, ganz in dieser aufzugehen. Immer wenn die Gedanken abschweifen, wird uns unser Gewahrsein wieder ins Jetzt zurückrufen. Wenn wir nur ein wenig Übung in dieser spirituellen Praxis erlangen, werden wir überreichlich belohnt. Eine große Gelassenheit überkommt uns, die aber interessanter Weise von einer wesentlich höheren Intensität des Empfindens begleitet wird, als sie jemand erfahren kann, der ein unreflektiertes, oberflächliches Leben führt. Ein innerer Friede und ein Glücklichsein gehören auch dazu, wobei wir in der äußeren Welt gar keinen Grund für dieses Glücklichsein finden werden. Das klingt doch verdammt schön?
Ja, es ist es auch – probiere es doch einfach einmal selber aus!
Arthada, Wien am 13. Dezember 2020