Seit vielen Jahrtausenden werden die spirituellen Lehrer der Meditation in Indien, der Wiege der Spiritualität, „Guru“ genannt. Ein Guru ist jemand, der uns von der Dunkelheit zum Licht führt, also ein Lehrer, der die Unwissenheit seiner Schüler erleuchtet ("the one who illumines the ignorance night of the students").
Die meisten Gurus haben selbst unter einem Guru gelernt. In der Tradition gibt es so ganze Reihen von Gurus, wobei das Wissen über Generationen weitergegeben wird.
Nicht jeder, der Meditation lehrt, ist auch ein Guru oder spiritueller Meister. Die meisten Meditationslehrer sind normalen Menschen nur einen Schritt voraus. Von echten Gurus jedoch wird erwartet, dass sie selbst das Ziel, die Selbst-Verwirklichung bzw. Erleuchtung, erreicht haben und damit auch über die Fähigkeit verfügen, die Wahrheit direkt zu kennen und andere Menschen zu dieser Wahrheit zu führen. Solche echten Gurus sind sehr, sehr selten. Es hat sie aber schon vor Buddha und auch nach Jesus gegeben.
Was ein spiritueller Meister wirklich ist bzw. welches Bewusstsein er verkörpert, kann man niemals intellektuell erfassen. Das Bewusstsein eines Gurus ist im Unendlichen, im Ewigen daheim – einer Ebene, zu der sich unser begrenztes Vorstellungsvermögen nicht erheben kann. Aber eine Ebene, die wir in unserer eigenen spirituellen Praxis jedenfalls irgendeinmal selbst erfahren können. Ein spiritueller Meister ist mit seinem wahren Selbst, mit dem Göttlichen und mit dem Universum eins geworden.
Um einen spirituellen Lehrer beurteilen zu können, ist es nötig, selbst einmal in das Meer der Spiritualität zu springen und eigene Erfahrungen zu sammeln. So wie eine Krankenschwester eher weiß, welcher Arzt in ihrem Spital ein guter Operateur ist, so kann jemand, der schon über eigene Erfahrungen in der Meditation verfügt, eher spüren, welcher Guru authentisch ist.
Grundsätzlich kann man sagen, dass ein Guru immer eine Verkörperung der Reinheit in Gedanken und Werken ist. Gewisse Merkmale finden sich bei allen spirituellen Meistern: Das Nicht-Verhaftetsein, Selbstlosigkeit, Bescheidenheit, Natürlichkeit und Humor. Religiöser Fanatismus und Intoleranz wirst du sicherlich nie bei einem authentischen spirituellen Meister antreffen. Kompromissloses Streben nach Gott aber sehr wohl. Selbstverständlich verfügen Gurus über übernatürliche Kräfte – diese sind aber an sich nichts Außergewöhnliches und dienen daher noch lange nicht als sicheres Indiz dafür, dass jemand sein wahres Selbst gefunden hat.
Die Botschaft der spirituellen Meister – so vielfältig ihre Wege sind – ist letztlich immer die gleiche: Gott ist nichts Theoretisches, nicht etwas, an das wir einfach glauben müssen; Gott muss zu einer lebendigen Erfahrung werden. Alle Meister - die bekanntesten Meister des Altertums, wie Lao Tse, Sri Krishna, Buddha und Jesus eingeschlossen - haben selbst einmal einen spirituellen Pfad beschritten, eine bestimmte spirituelle Disziplin ausgeübt, die ihnen schließlich zur Meisterung ihrer eigenen Natur verhalf und in der höchsten „Selbst“-Erkenntnis gipfelte. Die meisten erleuchteten Meister haben sich in der Folge von der Welt zurückgezogen; sie hatten das Gefühl, genug gelitten zu haben. Aber einige sind aus Mitleid und Liebe heraus in der Welt bei der unwissenden, leidenden Menschheit geblieben und haben Schüler initiiert und geführt.
Es ist die lebendige Gotteserfahrung, die jeden echten spirituellen Meister auszeichnet bzw. ausmacht.
So berichtete etwa – um nur ein Beispiel zu bringen - Sri Aurobindo, einer der bedeutendsten Meister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über seine Jugendzeit in England: „Man sagte mir, es gebe keinen Gott und man bewies es mir mit überzeugenden Argumenten. Doch später sah ich Gott plötzlich von Angesicht zu Angesicht und sprach mit Ihm. Wem soll ich nun glauben: den Theorien anderer oder meiner eigenen Erfahrung?“
Vielleicht noch ein weiteres Beispiel: Als Ramakrishnas späterer Lieblingsschüler Vivekananda seinen Meister das erste Mal sah, kam er als überzeugter Atheist, war jedoch tief beeindruckt, dass Sri Ramakrishna zu sagen wagte, er sehe Gott klarer vor sich als irgend einen Menschen. Eine innere Stimme zog ihn immer wieder zu diesem Meister, obwohl er in seinem Verstand stark zweifelte. In Gesprächen mit anderen bezeichnete Vivekananda die Behauptung der alten Weisheitsschriften als absurd, dass Gott nicht nur im Menschen, sondern in allen Wesen und Gegenständen gegenwärtig sein soll. Mitten in einer solchen Diskussion berührte ihn Sri Ramakrishna einmal sanft und plötzlich sah und fühlte Vivekananda überall Gott – in Menschen, in Tieren, in Bäumen, selbst im Wasser und in Steinen, und er verblieb mehrere Tage lang in einem Zustand unbeschreiblicher Ekstase.Auch Sucher können solche Erfahrungen von Zeit zu Zeit erhalten, aber bei den verwirklichten Meistern wird diese Gotteserfahrung zu einem festen Teil ihrer Existenz. Sie haben Gott verwirklicht und sind mit Ihm und Seinem Willen in jedem Augenblick ihrer Existenz bewusst eins.
Trauriger Weise mussten alle spirituelle Meister die gleiche unerfreuliche Erfahrung machen: Sie waren der Welt so weit voraus, dass sie von der Welt missverstanden, verfolgt oder mit Schmutz und Hohn beworfen wurden. Das war nicht nur vor 2.000 Jahren so. Sri Ramakrishna, einer der ganz großen Meister des ausgehenden 19. Jahrhunderts antwortete auf die regelmäßig geäußerte Vermutung, er sei verrückt, Folgendes:
„Auf dieser Welt sind alle Menschen verrückt. Die einen sind verrückt nach Geld, die anderen sind verrückt nach Macht, ich bin verrückt nach Gott. Mir ist meine Verrücktheit am liebsten...“
Zusammenfassend soll noch einmal festgehalten werden: In der Praxis ist es sehr viel einfacher, Meditation zusammen mit einem Guru zu erlernen, als es auf sich alleine gestellt zu versuchen. Ein wirklicher Guru gibt nicht nur äußere Anweisungen, sondern kann den Lernenden auch innerlich leiten und führen.
Wenn man aber nicht das Glück hat, gleich zu Beginn einem spirituellen Lehrer über den Weg zu laufen, der den eigenen Erwartungen voll und ganz entspricht, dann ist es sicherlich das Beste, einfach einmal autodidakt oder vielleicht zusammen mit Gleichgesinnten meditieren zu beginnen. Alles andere bzw. Notwendige ergibt sich dann in der Regel von selbst.
Das wichtigste ist einfach einmal zu beginnen (Konfuzius: "Es ist besser eine Kerze anzuzünden, als über Dunkelheit zu klagen").